Es folgt ein Briefwechsel zweier Herren
Wien, am 7. Juli 2018
— Die Teilung der Aufmerksamkeit —
Lieber Fabian,
vielen Dank für deinen bewegenden Brief. Ich muss gestehen, ich habe lange gegrübelt, wie ich der Musik - die du wunderbar ausgewählt hast – meine ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen lassen kann, wenn ich währenddessen lesen soll. Nach mehreren gescheiterten Versuchen, bei denen ich immer wieder meine Aufmerksamkeit dann doch geteilt habe (ein Teil musikerfassendes Hören, ein Teil sinnerfassendes Lesen), habe ich schlussendlich beschlossen, zuerst der Musik mit geschlossenen Augen zu lauschen und mich dann mit der hervorgerufenen Stimmung dem jeweiligen von dir verfassten Absatz zu widmen. So war meine Aufmerksamkeit schließlich doch noch ungeteilt.
Blöd war nur, dass mir so die dichten Rauchschwaden nicht aufgefallen sind, die sich langsam meines Arbeitssalons ermächtigten. Immer enger zogen sie ihre Kreise um mich, während ich konzentriert mit zusammengepressten Lidern und ungeteilten Sinneswahrnehmungen „Ashes to the wind“ von Rachel Portman lauschte. Als das saloppe Stückchen Musik, das auch gut ins Auenland passen würde, nach zwei Minuten und 19 Sekunden zu Ende war und ich mit dem üblich dramatischen Augenaufschlag wieder bereit war meine Aufmerksamkeit in mehrere Richtungen tentakelartig um mich greifen zu lassen, sah ich bereits deinen Brief vor Augen nicht.
Leicht high von der Rauchgasvergiftung taumelte ich in den anschließenden PlayStation-Salon auf der Suche nach dem Brandherd. Auch hier fand ich nichts als dichten Rauch, kein Anzeichen eines fahrlässigen Umgangs mit dem Element Feuer, außer vielleicht der glühenden PlayStation, die seit mehreren Tagen verzweifelt GTA V lud. Der süßliche Geruch von frischem Porridge stieg mir ins Näschen und ich öffnete eines der Altbaufenster zum Innenhof. Da übermannte mich die schreckliche Erkenntnis – ich hatte die Hafermilch am Herd in Vorbereitung für meinen allabendlichen Espresso Macchiato vergessen.
Geschwind rannte ich in den Kochsalon, furchtlos griff ich nach dem Topf, schrie ein hohes Fis Dur vor Schmerz und ließ den entlarvten Brandherd wieder auf den eigentlichen Herd fallen. Dieser stieß den Unruhestifter wieder ab und das glühende Gefäß voll heißer Haferlava stürzte in Zeitlupe auf den frisch eingelassenen Fischgrätparkettboden. Jetzt wurde deutlich, dass sich die etwas teurere Lasur in OBI Regal Nummer 43 doch gelohnt hätte. Sofort ging der Billigersatz aus Regal Nummer 42 in Flammen auf und ich musste pragmatisch anerkennen: die Küche war verloren.
Ich trat die Flucht nach hinten an, verbarrikadierte mich im PlayStation-Salon, vernagelte die Tür und füllte die Fugen mit Silikon - das sollte reichen. Wer braucht schon einen Kochsalon, ab jetzt leb ich nur noch von Foodora. Bei dem Gedanken lief mir umgehend der Speichel in Strömen den Hals hinunter und ich eilte schnellen Schrittes zurück in den Arbeitssalon, um mir augenblicklich eine Pizza Quattro Formaggi zu bestellen.
Während ich noch mit der Entscheidung zu extra Zwiebeln rang (dafür spricht, dass es geil ist – dagegen, dass Zwiebel streng genommen auf einer Quattro Formaggi nichts verloren haben), entging mir, dass mittlerweile auch die PlayStation endgültig den Geist aufgegeben und sich für den Freitod im eigens verursachten Fegefeuer entschieden hatte. Als ich die Bestellung los war und bereit meine Aufmerksamkeit erneut zu teilen, nagten die Flammen bereits an meinen schlecht geschnittenen Zehennägeln. Ich erkannte die Ausweglosigkeit meiner Situation und mir blieb nichts anderes übrig, als meinen treuen Freund den Epson-Drucker fest im Heizkörper zu verankern, aus dem Fenster zu steigen und mich am Druckerkabel aus dem zweiten Stock abzuseilen. Unten aufgeschlagen, kam ich gerade rechtzeitig, um dem misstrauischen Fahrradkurier meine Pizza zu entreißen.
Und hier sitze ich nun, vor meinen brennenden Salons und kaue an einem Stück Quattro Formaggi. Daher meine dringliche Anfrage an dich, Fabian, kann ich ein paar Wochen bei dir auf der Couch schlafen? Immerhin ist das ganze Missgeschick ja auch ein bisschen deine Schuld – denn spätestens jetzt wissen wir wohl beide, die Teilung der Aufmerksamkeit ist ein hohes Gut.
Bitte antworte rasch, es wird kalt,
dein Benedikt